KAPITEL 1
NILS BERGER KAPO BRUGG.
ZWEITES BUCH
BEGIERDEN, gib ihnen nach und stirb.
ZWEI UHR MORGENS: EIN PARKPLATZ IRGENDWO IN BRUGG
Sie sitzt im Auto, mit zitternden Händen umklammert sie das Lenkrad, so stark, dass ihre Knöchel weiss durchschimmern. Plötzlich öffnet sie die Autotür, beugt sich hinaus und dann strömt ein Schwall aus Galle und Pfefferminztee aus ihrem Magen. Das Klatschen der Flüssigkeit, die auf dem Boden auftrifft und die würgenden Laute, die aus ihrem Mund dringen, hallen in ihren Ohren. Schluchzend versucht sie, frische Luft in ihre Lungen zu ziehen, doch der saure Speichel in ihrer Speiseröhre, läuft in ihre Luftröhre und verätzt den dringend benötigten Sauerstoff, was einen Hustenanfall nach sich zieht, der ihr die Tränen in die Augen treibt.
Schlotternd tastet sie nach einem Erfrischungstuch, die sich immer im Seitenfach der Autotür befinden. Mit verschwommenem Blick versucht sie, die Packung aufzureissen, aber das kleine Tütchen entgleitet ihren glitschigen Fingern und fällt direkt in die Schweinerei.
„Oh Gott, oh Gott, ich schaff das.“ Während sie dieses Mantra, in einem schluchzenden Singsang, vor sich hinmurmelt, tastet sie erneut nach dem rettenden Tuch und diesmal schafft sie es sogar. Der wohltuende Geruch nach Zitrone erfüllt ihre Nase und sie legt es auf ihr Gesicht, tief einatmend, lehnt sie sich in den Sitz zurück, bis sie ihre innere Ruhe wiedergefunden hat.
Beschämt, über ihre kleine Entgleisung, zieht sie die Tür zu.
Sie wischt sich das Gesicht sauber, fischt nach einem weiteren Tuch und macht dasselbe mit ihren Händen.
Sie streckt ihren Rücken durch, lockert die verkrampften Schultern, zieht den Blendschutz hinunter und sieht in den kleinen Spiegel, der dort angebracht ist.
Hektische, rote Flecken überziehen ihre Wangen, doch das wird eh niemandem auffallen. Schon lange ist es her, seit sie von jemandem richtig angesehen wurde, die meiste Zeit ist sie unsichtbar.
Sie startet den Motor, fährt bis zum Toilettenhäuschen vor, parkiert erneut, öffnet die Tür und steigt aus. Aufmerksam beobachtet sie die Umgebung, doch zu dieser Uhrzeit sind kaum noch Fahrzeuge auf der Strasse. Sie läuft zur Seitentür, holt die Tasche heraus und läuft zum WC, immer wieder sieht sie dabei nach hinten.
Kurze Zeit später verlässt sie das Häuschen wieder, in frischen Jeans und T-Shirt, in der einen Hand die Tasche, in der anderen einen Müllsack, den sie in einer Abfallmulde, die hinter dem Toilettenhaus steht, entsorgt.
Niemand ist in dieser kurzen Zeit auf den Parkplatz gefahren, sie ist immer noch allein, als sie wieder in den Wagen steigt. Sie atmet tief ein, startet den Motor, verlässt den Parkplatz und biegt auf die Autobahn ein.
MONTAG 08:30 EIN WOHNBLOCK IN WINDISCH
Die Sonne beginnt gerade, die Luft zu erwärmen, die nach Frühling duftet. Der leichte Wind weht die letzten verdorrten Blätter, die noch keiner zusammengenommen hat, über den Asphalt.
Rosalia Cardillo parkt ihr Auto vor dem Block, in dem die Wohnung liegt, die sie putzen soll und atmet tief ein. Sie summt ein italienisches Kinderlind vor sich her, dass ihre Mutter ihr immer vorgesungen hat, wenn sie traurig war, damals als sie noch klein war und die Familie gerade in der Deutsch-Schweiz Fuss fasste. Schwierig war’s, der Sprache nicht mächtig und in der Schule verstand sie das meiste nicht, womit sie die anderen Kinder dann immer aufzogen und Sau-Tschingg hinter ihr herriefen. Doch das ist lange her, von ihren Vier Kindern ist nun auch schon der Jüngste aus der Schule, bereit ein eigenes Leben zu führen und bald wird sie mit Franco alleine in der Fünf Zimmer Wohnung sein. Mit seiner mageren Rente, die er nach Vierzig harten Jahren als Maurer auf dem Bau, erhalten wird, können sie sich den Traum vom eigenen Häuschen eh nie erfüllen. Auch nicht mit dem wenigen, dass sie in all den Jahren mit Putzen, dazu verdient hat. Eigentlich wollten sie immer nach Hause zurück, zu dem kleinen Häuschen mit Garten auf Sizilien, dass sie von ihrem Nonno geerbt hatte. Doch das wurde ein Raub der Flammen, während eines verheerenden Waldbrandes vor zwei Jahren und die Versicherung will den Schaden, bis heute, nicht bezahlen.
Wehmütig denkt sie an die schöne Zeit zurück, als sie mit den Kindern, die Fünf Wochen Sommerferien jedes Jahr, dort unten verbrachten, nun ist alles weg, in Rauch aufgegangen und weggeweht.
Sie seufzt, strafft ihre Schultern und packt den Putzeimer, die Flaschen und Lappen und sucht den richtigen Schlüssel, an ihrem grossen Bund. 10 Schlüssel sind am Ring befestigt, ein ziemliches Gewicht, dass hier zusammenkommt. Jeder für eine andere Wohnung, in verschiedenen Wohnblöcken in Brugg, Windisch, Baden und Umgebung.
Zuerst war Rosalia nicht klar, dass diese Wohnungen für eine bestimmte Klientel vermietet werden. Sie dachte es wären Ferienwohnungen, die Wochenweise vergeben werden.
Erst als ihre Tochter sie aufklärte, wozu die sogenannten Datingrooms genutzt werden, wurde ihr klar, weshalb sie nie auf irgendwelche Bewohner traf und warum sich so viel Bettwäsche , aber fast kein Geschirr, in den Schränken befindet.
Am Anfang wollte sie gleich wieder kündigen, doch dann überwand sie ihre Bedenken und seit sie ausblendet, was in diesen Zimmern alles so getrieben wird, kann sie sich auch wieder ohne schlechtes Gewissen in die Kirche begeben. Denn schliesslich ist es ja nicht sie, die dort sündigt und was andere in ihrem Leben machen, geht sie Gott sei Dank nichts an.
Die Arbeit wird gut bezahlt und sie kann sich ihre Zeit relativ frei einteilen, wichtig ist nur, dass sie am Montag und Donnerstag alle Wohnungen gründlich macht, was sie meistens bis halb eins Mittags erledigt hat.
Immer noch summend, öffnet sie die Tür, wo ihr als allererstes ein übler Geruch in die Nase sticht.
„Per l’amor del cielo. Cos’è questa merda?“ Rosalia schliesst die Tür und steuert sofort auf das Fenster zu, wo sie auf halbem Weg erstarrt, den Blick auf das Bett gerichtet.
„Ohh perdio, no no.” Sie beginnt sich zu bekreuzigen während sie unentwegt vor sich hinmurmelt, ohne es wahrzunehmen. Zu schrecklich ist der Anblick, der sich ihr auf dem Bett bietet.
Irgendwann wird ihr klar, dass sie etwas unternehmen muss, sie kann den armen Mann so nicht liegen lassen. Wie soll sie denn sauber machen? Sie muss Iris anrufen, sie weiss sicher was zu tun ist.
Mit zitternden Händen fummelt sie ihr Natel aus der Hosentasche und sucht hektisch nach der Nummer ihrer Chefin.
„Ohh Iris bitte, du musst sofort kommen, es ist so furchtbar. Er ist tot, mein Gott, er ist tot.“ Sie merkt nicht, wie ihr die Tränen über das Gesicht strömen und sie vor sich hin stammelt. Sie will nur eines, so schnell wie möglich aus diesem Raum verschwinden und dieses Bild vergessen, doch es hat sich in ihr Hirn gebrannt, wohl für immer.
„Rosalia, wovon redest du denn? Bitte sag mir was passiert ist, sofort.“ Die fordernde Stimme von Iris Widmer holt sie in die Wirklichkeit zurück.
„Da liegt ein toter Mann auf dem Bett.“ Es nur auszusprechen, genügt schon und die Tränen fliessen erneut.
„Er, er, oh Gott er ist gefesselt und hat einen Ball im Mund.“
„Bist du sicher, dass er tot ist?“ Die nüchterne Art ihrer Chefin hilft ihr, sich zusammenzureissen und sie zwingt sich in das bläuliche Gesicht, mit den weitaufgerissenen, trüben Augen des Mannes zu sehen. „Ja ich bin mir hundert Prozent sicher.“
„Gut dann ruf ich die Polizei, wenn du möchtest, kannst du gehen und ich sag denen, dass ich ihn gefunden habe.“
Über die Fürsorge gerührt, steigen sofort die Tränen wieder hoch, doch sie drängt sie schnell zurück.
„Nein danke, das ist nett von dir. Aber ich werde das Erledigen, vielleicht hilft es mir ja.“
„Gut, ich denke das Beste wird sein, du verlässt die Wohnung und wartest draussen auf sie. Ich bin so schnell da, wie ich kann. Schau dass du nichts anfasst, damit keine Spuren verwischt werden. Es tut mir so leid, dass du sowas miterleben musst.“
Sie verabschieden sich voneinander und Rosalia verlässt die Wohnung, ohne das Fenster geöffnet zu haben.