Im Oktober 1990 habe ich in Doboj in Bosnien das Licht der Welt erblicken dürfen. Zwei Jahre nach meiner Geburt brach der Krieg aus. Vor uns standen Monate und Jahre auf der Flucht. Raus aus der Heimat, raus in die weite Welt, wir haben uns nach Frieden gesehnt.
Während meiner Mutter mit meiner Schwester und mir die Flucht gelang und wir nach etlichen Monaten in Flüchtlingsunterkünften in Slowenien, Kroatien, der Schweiz und letztendlich in Deutschland unsere neue „Heimat“ fanden, musste mein Vater als Soldat im Bosnienkrieg kämpfen. Nachdem wir fast ein Jahr getrennt waren, hatte er es letztendlich geschafft zu fliehen und konnte unseren genauen Standort über diverse Organisationen ausfindig machen.
In Deutschland angekommen, war es für meine Eltern ein unfassbar schwerer Weg, ins Leben zurückzufinden. Während die Familie nun auf der ganzen Welt verteilt war, weil alle flohen, wohin sie nur konnten und keiner gefragt wurde, was er wolle sondern das tat, was man von ihm verlangte, standen wir vor der großen Aufgabe, hier bei Null anzufangen, ein neues Leben aufzubauen.
Arbeit finden, raus aus dem Heim, Deutsch lernen, Kindergarten, Schule. Viele Steine wurden uns in den Weg gelegt, viele Tränen haben wir vergossen, aber wenn mich meine Eltern eines im Leben gelehrt haben, dann, dass wir immer, wirklich immer stark sein müssen, für unsere Ziele kämpfen müssen. Geduld. Übe dich stets in Geduld, denn sie trägt die süßesten Früchte. Sei zielstrebig, nur dann gelangst du ans Ziel. Glaube daran, dass du alles schaffen kannst, denn dir wird keine Aufgabe auferlegt, die du nicht im Stande bist zu tragen.
Auf emotionaler Ebene wurde mir erst viele Jahre später bewusst, wie wenig wir verarbeitet und wie viel wir verdrängt haben. Nie wurde darüber gesprochen, was passiert war. Lediglich Papa hörte ich nachts immer wieder schreiend und weinend aufspringen, weil er wieder einmal auf die Szenarios des grausamen Krieges in seinen Träumen traf. Selber erinnere ich mich kaum, lediglich eine Situation hängt mir stets im Kopf: Meine Zwillingsschwester und ich, wie wir auf einem Bett stehen, um aus der kleinen Kellerluke zu spähen, während am Himmel Lichter aufleuchten. Granaten schlagen ein, Bomben explodieren. Was da wirklich passierte, realisierte ich erst später. Damals habe ich mich über die hellen Lichter am Himmel gefreut, während wir im Keller verweilen mussten.
Schnell fand ich mich hier zurecht, habe die Sprache gelernt und das Leben lieben gelernt. Freunde fanden wir sofort, blühten auf und vergaßen, welcher Schicksalsschlag hinter uns lag. Meine Eltern taten ihr Bestes, uns vergessen zu lassen. Sie lebten ein Leben für uns, in dem sie immer stark waren, unfassbar fleißig und Tag für Tag für ihre Ziele kämpften.
Mein „nächstes“ traumatisches Erlebnis hatte ich dann mit ca 9 Jahren. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Lisa und Kathi, zwei Schwestern, die unsere Nachbarinnen und zugleich beste Freundinnen waren, saßen mit meiner Schwester und mir in der Gasse. Wir malten mit Kreide auf dem Boden und spielten im Kreis sitzend.
Weiter entfernt kam ein ungefähr Mitte 40 Jahre alter Mann die Gasse entlanggelaufen. Diesem schenkten wir keine Aufmerksamkeit, denn normalerweise hätte er ja einfach nur die Gasse entlang spazieren können. Normalerweise. Und obwohl ich mir immer sicher war, solch grausame Dinge könnten jedem passieren, nur mir nicht, wurde ich an diesem Tag eines Besseren belehrt.
Dieser Mann, in einer grün verwaschenen Parka und mit leichtem grauen Haaransatz, packte mich von der Seite unter den Armen und zog mich mit. Geschrei. Rufe. „Hilfe! Mama Hilfe! Er nimmt Alma mit! Hilfe!“.
Und während ich diese Zeilen schreibe, fließen die Tränen.
Er hatte mich gepackt und mitgezerrt. Ich war klein, hilflos, erstarrt vor Angst. Ich erinnere mich, wie Kathi uns ein paar Meter hinterher rannte, versuchte ihn zu treten. Meine Schwester schrie an der Haustüre nach Mama, die endlich total entsetzt angerannt kam. Mich ergriff die Panik - was war sein Ziel, was wollte dieser Mann von mir? Ich fing an um mich zu schlagen, schrie aus tiefster Seele. In einer Gasse, nicht weit entfernt vom Geschehen, entdeckte ein älter Mann, was da vor sich ging und schrie ihm mit dem Handy am Ohr entgegen: „Lassen sie sofort das Mädchen gehen, ich habe die Polizei gerufen!“ Chaos um uns. Blackout. Ich erinnere mich nur, wie ich plötzlich wieder den Boden unter meinen Füßen spürte. Polizei. Er war weg. Meine Mutter hatte bereits meinen Vater angerufen, der innerhalb weniger Minuten von der Arbeit geeilt kam. Und ich erinnere mich an den für mich und für meinen Vater schlimmsten Moment überhaupt.
Es erstickte ihn, die Vorstellung, dass mich jemand einfach auf der Straße mitgenommen hatte. Noch schlimmer war der Gedanke, was hätte passieren können. Mein Vater nahm mich in den Arm, setzte sich mit mir auf die Treppe unseres alten Häuschens und bat mich, mit ihm zu sprechen. Ich sah ihn an und fing an, am ganzen Körper zu zittern. Meine kleine Seele konnte das in diesem Moment nicht verarbeiten. „Du bist ein Mann, wie er, du machst mir Angst.“ Genau das fühlte ich in diesem Moment. Ich sprang auf und lief hoch in mein Zimmer, vergrub mich unter der Decke und konnte nicht aufhören zu weinen. Ich liebte meinen Vater, über alles. Aber ich konnte ihn nicht sehen. Er war ein Mann und in diesem Moment ekelte ich mich vor jedem, der männlich war. Es machte mir schreckliche Angst. Dieser Zustand der Ohnmacht hielt einige Monate an. Ich mied Papa, sah ihm kaum in die Augen, jedes Mal überkam mich ein Unwohlsein und ich spürte, wie sehr es ihn verletzte, aber meine Seele war noch tiefer verletzt.
Heute wünschte ich, ich hätte damals einen Psychologen besuchen können, um zu verarbeiten, was da geschah. Aber das gab es bei uns nicht. Wir verarbeiteten einfach alleine. Wir schluckten Emotionen runter. Wir waren Kämpfer, zumindest waren es meine Eltern. Wir waren aus dem Krieg geflohen, hatten es überlebt, jeder für sich und auf seine Art und Weise verarbeitet. Auch damit schien ich alleine klar kommen zu müssen. Ich hätte meine Eltern zum Reden gehabt, aber die Scham war viel zu groß. Also schwieg ich Geschehenes in mich hinein, verlor nie wieder ein Wort darüber, doch wie oft ich daran dachte und diesen Schmerz im Herzen spürte, das weiß nur ich.
Im Sportunterricht fiel es mir unfassbar schwer, mitzumachen, vor allem wenn wir rennen mussten. Irgendwann ging ich gar nicht erst hin. Ich hatte nun diese Angst entwickelt, die mich bis heute begleitet: Rennt jemand auf mich zu, oder rennt jemand hinter mir, erstarre ich vor Angst. Mich ergreift heute noch die Panik, das Gefühl, gleich gepackt zu werden. Fahrradfahrer, die von hinten kommen, Jogger. Jedes Mal bleibe ich stehen, schließe kurz meine Augen und atme tief ein, bis es vorüber ist.
Irgendwann zogen wir um. Ich besuchte das Gymnasium, fand neue Freunde und dachte immer seltener daran. In einer neuen Stadt fanden wir unser neues Zuhause, alles war aufregend und schön.
Die Schule beendete ich, distanzierte mich von Menschen, die mir nicht gut taten und freundete mich mit Menschen an, die lebensfroh und positiv gestimmt waren. Ein glückliches Kind war ich immer, bin es heute noch, nur eben nicht mehr Kind.
Bereits mit 18 Jahren lernte ich meinen heutigen Ehemann kennen. Drei Jahre Beziehung auf die fast zwei Jahre Trennung folgten. Wir waren zu jung, ich zu schwach und emotional abhängig. Das musste ich beenden, um zu mir zurück zu finden.
Irgendwann stellte sich aber heraus, dass dieser Mensch aus meinem Leben nie verschwand. Egal was passierte, wenn es hart auf hart kam, war er da. Er liebte mich. Das tut er heute noch und auch wenn er ein Mensch ist, der unfassbar schwer Gefühle zulassen kann, so spüre ich deutlich, wie groß seine Liebe zu mir ist. Aber selbst diese Beziehung bzw. Ehe hat mich emotional und mental viel Kraft gekostet. Dazu aber später mehr.
Heute bin ich zweifache Mutter. Es war immer mein Traum, Mutter zu werden. Ich dachte sogar, ich würde hierin meine Erfüllung finden. Das habe ich natürlich auch. Aber genauso habe ich die letzten Jahre lernen dürfen, dass Kinder nur dann glücklich sind, wenn sie eine glückliche Mutter haben. Viel zu oft war ich glücklich über sie, aber nicht glücklich im Ganzen. Schnell verspürte ich den Drang nach mehr. Ich bin unfassbar gerne Mutter, ich liebe mit meinem ganzen Herzen. Ich bin energisch, lustig, motiviert und genieße es, mit ihnen Kind sein zu dürfen. Aber da ist mehr. Da ist der Durst nach Selbstfindung. Der Durst nach Verwirklichung. Ich kann mehr, als das. Ich spüre das. Ich hab so Vieles zu geben, so viel mehr als das. Das kann’s nicht gewesen sein Alma, zeig ihnen was in dir steckt!