Kapitel 1
Als mein Dad sein Gerichtsurteil bekam, blieb für mich einen Moment die Welt stehen, denn er musste ins Gefängnis wegen Steuerhinterziehung. Zu dem Zeitpunkt war mir klar gewesen, dass ein Alptraum auf mich zu kommen würde.
Zuerst war ich zu meiner Tante gekommen, aber meine sogenannte Mutter wollte das Sorgerecht.
Und bekam sie es?
Logischerweise als Mutter.
Ich wollte ums Verrecken nie zu ihr ziehen, sondern bei meiner Tante bleiben. Aber das Gericht entschied sich anders.
Könnte es noch schlimmer sein?
Schlimmer geht immer.
Meine alte Gegend musste ich hinter mir lassen. Bei meiner Tante hätte ich wenigstens meine Freunde behalten können und wäre an derselben Schule geblieben. So wechselte ich mitten im Schuljahr.
Es wurde einer oben drauf gelegt, denn meine Mutter hatte längst einen Neuen mit dem sie verheiratet war. Ansonsten hatte ich kaum Infos über sie.
Meine Wünsche waren ihr egal, deshalb interessierte mich diese Frau kein bisschen. Sie hatte gewusst, dass ich niemals zu ihr wollte, dennoch ging sie vor Gericht und zwang mich zu sich zu ziehen.
Nach all den Jahren, dann wollte sie plötzlich, dass ich bei ihr lebte. Von heute auf morgen hatte sie beschlossen mich bei sich haben zu wollen.
Wie launisch konnte man sein?
Ich fühlte mich, wie ein Objekt, dass man abgeben und holen konnte, wie sie es wollte.
Wut und Hass waren meine zwei Hauptemotionen, wenn ich an meine Erzeugerin dachte.
Inklusive der großen Angst vor dem Neuanfang. Wer weiß, was auf mich zu kam. Und die Angst um meinem Dad. Es war fraglich, wie es ihm im Gefängnis ging.
Trauer, um mein altes Leben, dass ich zurücklassen musste und meinen Dad. Es war zwar scheiße was er getan hatte, aber deshalb in den Knast zu wandern, fand ich übertrieben und ich vermisste ihn sehr.
Ich wartete gerade am Bahnsteig auf den Zug, obwohl meine Mum angeboten hatte mich abzuholen, aber nein. Das wäre eine sehr lange und seltsame Autofahrt. Und wir hätten Zeit zum Reden, was ich auf keinen Fall wollte.
Meine Tante wartete mit mir und umarmte mich zum gefühlt hundertsten Mal für heute. Ich erwiderte es natürlich und sie meinte: "Ich werde dich sehr vermissen, Ariana." Ich drückte sie fest an mich und antwortete: "Ich dich auch."
Ich konnte es nicht in Worte fassen wie sehr sie mir fehlen würde, denn wir waren einfach eine liebende Familie. Sie hatte immer in unserer Nähe gewohnt, weshalb es eigenartig ohne sie sein würde.
Sie löste sich von mir, nahm mein Gesicht in ihre Hände und sagte sanft: "Ich hoffe du hast es gut bei ihr. Falls nein, meine Tür steht immer offen für dich." Sie ließ ganz ab von mir und ich lächelte sie aufmunternd an. "Ich weiß, danke." Dabei könnte ich nicht mal zu ihr, wenn ich es wollte.
"Nicht dafür, Liebes." Meine Tante hatte zwar mit Depressionen zu kämpfen gehabt, aber ansonsten war sie ein selten guter Mensch. An ihr konnte man nichts aussetzen.
Vermutlich hatte sich auch deshalb das Gericht gegen sie entschieden. Inklusive der Tatsache, dass sie meist mit Geldproblemen zu kämpfen hatte.
Die Durchsage kam, dass mein Zug einfuhr und das ließ mein Herz einen Schlag aussetzen. Es ging also los, weshalb ich tief Luft holte um ruhig zu bleiben.
Ich sah nochmal zu ihr und sagte: "Ich ruf dich an, sobald ich angekommen bin. Und ich komme dich bald besuchen, ok?" Hoffentlich ließ meine Mum das zu, falls nein musste ich kreativ werden.
Meine Tante lächelte und antwortete: "In Ordnung. Gute Reise und pass gut auf dich auf." Eine letzte Umarmung musste sein und die war fest. Ich klammerte mich an sie als hing mein Leben davon ab. Nebenbei antwortete ich: "Danke, du auch."
Warum mussten Abschiede immer so weh tun?
Es fühlte sich an als würde mir jemand grausam mein Herz herausreißen oder einen Dolch hineinjagen.
Sie streichelte mir über den Rücken und sagte dabei: "Du wirst sehen, dass alles gut wird." Ich seufzte, denn diesen Optimismus hatte ich längst verloren.
Wir lösten uns voneinander und ich sah gleich weg, damit sie die Tränen in meinen Augen nicht sehen konnte. Das würde es nur schwerer machen.
Der Zug blieb vor mir auf den Gleisen stehen, weshalb ich meinen Koffer schnappte und ein weiteres Mal tief Luft holte.
Ich ging die paar Schritte auf die Tür des Wagons zu und diese öffnete sich automatisch. Den Koffer nahm ich in die Hand und hob ihn über die Schwelle.
Am liebsten hätte ich nochmal zu meiner Tante gesehen, aber ihr Herz würde brechen, wenn sie die Tränen sah. Das wollte ich ihr ersparen, weshalb ich den Koffer abstellte und weiter zog.
Ich war unvernünftig genug gewesen keinen Platz zu reservieren, aber es war beinahe niemand hier. So fand ich gleich einen freien Platz und konnte mich setzen.
Den Koffer ließ ich neben mir auf dem Boden stehen und sah aus dem Fenster. Der Bahnsteig lag auf der anderen Seite, weshalb meine Aussicht ein anderer Zug war.
Ich musste mich zwanghaft zusammenreißen nicht zu weinen. Ich biss mir auf die Unterlippe und versuchte mich abzulenken. An meine Mum zu denken wäre ideal, das machte mich wütend, womit die Trauer in den Hintergrund rückte.
Auf unser Wiedersehen war ich gespannt. Zwölf Jahre war es nun her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Ich erinnerte mich kaum an sie, damals war ich erst fünf gewesen.
Wer könnte sich daran noch perfekt erinnern?
Außerdem war das von negativen Emotionen überwogen. All die Jahre in denen ich sie vermisst hatte und die selten dumme Hoffnung hatte, dass sie wieder kam.
Meine Mum war ohne ein Wort abgehauen und war verschwunden. Das Warum war mir unbekannt. Und es hatte mich überrascht, dass sie mich überhaupt bei sich haben wollte.
Tja, leider wurde man von seinen Mitmenschen allgemein gerne überrascht und das meist negativ.
Der Zug setzte sich schon in Bewegung und damit war mein altes Leben offiziell vorbei.
Es ging los in meine zukünftige Hölle.