Chapter 1
Seit ein paar Wochen zieht das neue Café gegenüber unserer schönen Altstadtwohnung nun schon meinen Blick auf sich. Es scheint der Hotspot der Hipster unserer Stadt zu sein. Flanellhemden und Hornbrillen gehen aus und ein mit ihren ausgelaufenen Chucks und Schnürstiefeln und Fairtrade-Secoundhand-Vintage-Kleidung. Ein starkes Anzeichen dafür, dass sich dort meine gesamte Schule in kürzester Zeit befinden wird, die mit ihren Blogs und Instagramfollowern bald das Café zum Überlaufen bringen werden.
Es ist im Moment eine meiner liebsten Beschäftigungen auf meiner Fensterbank zu sitzen und ihnen einfach zuzusehen, aber doch nicht selbst hin zu gehen. Trends und neue Hotspots sind nichts für mich. Nicht, wenn mich nicht jemand dazu einlädt und ich somit keine Wahl habe.
Außerdem regen sich meine Eltern durchgehend über das Geschäft auf und die Jugend, die wohl überall ihren Müll liegen lassen würde und unsere schöne Altstadt verunstaltet. Auch wenn dort vermutlich jeder seine eigenen Tassen mitbringt, um bloß keinen Müll zu machen. Aber ich will gar nicht erst über ihre Kleidung reden. Meine Mutter ist davon überzeugt, dass sie aus der nächstbesten Mülltonne gefischt wurde. Meist werde ich dann still.
Ich finde es faszinierend, herauszufinden, wer nur Mitläufer und wer Trendsetter ist. Außerdem... mag ich ihren Stil. Er sieht fürchterlich bequem aus. Anders, als das, das ich für gewöhnlich trage: Designermode... Klassisch, feminin und eng. „Das, was eine Lady trägt”, pflegt meine Mutter zu sagen. Sie äußert sich auch immer wieder, wie unglaublich froh sie doch ist, dass ich mich nicht von solch kindischen Einflüssen leiten lasse, obwohl ich das anders sehe, halte ich lieber den Mund.
Ich weiß, dass meine Eltern es zu etwas gebracht haben und das haben sie nicht getan, in dem sie sich in ihrer Jugend irgendwelchen Trends hingegeben haben. Sie waren arbeiten und haben für die Schule geackert, damit sie es an die Spitze der Gesellschaft schaffen. Ich weiß natürlich, dass das eine gute Sache ist, die ja auch ich anstrebe, aber ich habe Zweifel, ob es denn das richtige Weg für mich ist. Ich bin keine Führungspersönlichkeit, doch sie sagen immer: „Wenn du es wirklich wollen würdest, dann würdest du es ganz an die Spitze schaffen, Evangeline. Willst du das etwa nicht?” Natürlich bringe ich dann keine Widerworte heraus, wie könnte ich denn? Sie wollen nur mein Bestes, sie wollen den gleichen Erfolg für mich im Leben. Ich bin mir nur nicht so sicher, ob ich das überhaupt will.
Es gibt eine Person in diesem Café, die mich noch so viel mehr fasziniert als die Hipster. Sie sieht aus wie das pechschwarze Schaf in der Herde von braunen Wollschafen. Jeden Morgen bindet sie sich die dunkelvioletten Haare zu einem Zopf hoch, während sie ihre Zigarette zwischen ihre dunkelroten Lippen klemmt. Sie trägt eine schwarze Lederjacke kombiniert mit Bandshirts und meist so zerrissene und zerfetzte Hosen, dass mehr Haut als Stoff da ist. Sie sieht aus, als würde sie das Ganze nichts angehen und nicht interessieren, dabei scheint ohne sie der Laden nicht zu laufen. Eines Morgens ist sie nicht gekommen und die Schlange zog sich über den ganzen Bürgersteig. Mein Vater hat sich an diesem Morgen so dermaßen aufgeregt, dass es kaum auszuhalten war und er Amok hätte laufen können. Ohne dieses Mädchen kommen die Angestellten nicht mit der Bestellung hinterher. Manchmal überlege ich, ob der Laden ihr gehört, doch dafür ist sie zu jung und, zu meinem Bedauern, zu selten da.
Manchmal blickt sie zu meinem Fenster hoch, als würde sie schauen wollen, ob ich das Café beobachte, scheinbar hat sie jemand darauf aufmerksam gemacht, dass ich hier so oft sitze. Zuerst war es ein flüchtiger Blick hoch zu meinem Fenster, desinteressiert wie an allem Anderen, dann grinste sie jedes Mal, wenn ich zu ihr herunterblickte und unsere Blicke sich trafen. Ich versteckte mich dann immer beschämt hinter meinem Vorhang. Wem behagte es schon beim Beobachten erwischt zu werden? Selbst bei dem Gedanken daran, schießt mir das Blut in den Kopf.
Schließlich winkte sie mir immer zu, wenn sie zur Arbeit kam, irgendwann begann sie sogar manchmal guten Morgen zuzurufen. So laut, dass ich es durch mein Fenster hörte. Ich weiß nicht, was ich davon halten sollte, oder davon, dass ich beinahe enttäuscht bin, wenn sie rauskommt, mich aber nicht eines Blickes würdigt. Ich weiß nur, dass sich seit einiger Zeit immer ein Grinsen auf meinen Lippen bildet und mein Herz aufgeregt klopft, als würde ich etwas Verbotenes tun, was ja auch irgendwie stimmt, da meine Eltern niemals billigen würden, wenn ich mich mit jemandem wie ihr abgebe. Sie ist das, was ich niemals sein werde. Aber vielleicht das, was ich sein will, das was ich brauche.
Vor ein paar Tagen hat sie mich mit einem Nicken ins Café eingeladen, doch ich habe nur scheu mit dem Kopf geschüttelt, niemals würde ich dieses Café betreten können, ohne an die Worte meiner Eltern zu denken. Sie zuckte nur mit den Schultern und verschwand zu ihrer Arbeit. Ich setzte mich an den Schreibtisch und begann wieder zu lernen. Wie immer. Ich muss mich auf mein Abitur konzentrieren und darf keine Ablenkung zulassen.
Heute haben ihre Lippen etwas geformt, ich bin nicht so gut im Lippenlesen, doch ich denke es war ein „Wieso nicht?“. Ich habe nur mit den Schultern gezuckt und sie ist im Café verschwunden und hat dann draußen an die Tafel geschrieben: „Holunderlimonade, nur 1,50 € ;)“. Sie hat auf die Tafel gezeigt und mich vielsagend angesehen. Natürlich habe ich den Kopf geschüttelt und sie ist wieder schulterzuckend im Laden verschwunden.
Ich habe mich wieder meiner Arbeit zugewandt, ihr Angebot ist mir aber nicht aus dem Kopf gegangen. Sie will scheinbar wirklich, dass ich ins Café komme. Ich... nur ich... Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Zum ersten Mal fühle ich mich beachtet, so wie ich bin und das von einem Menschen, der mich doch gar nicht kennt.